18.02.2024
Das Wort zum Sonntag - Interview: In Krisenzeiten die Angst besiegen
Kriege, Krisen, Konflikte: Kaum hatten wir Corona einigermaßen im Griff, brachen weitere Ungewissheiten über uns herein: Klima, Inflation, Kriege in der Ukraine und in Israel. Für viele Menschen sind die negativen Nachrichten
mehr als beängstigend. Wieviel kann die menschliche Psyche aushalten und was kann helfen? Stefan Hahn, Gestalttherapeut und Meditationslehrer in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Barmherzigen Brüder Saffig, erklärt, wie man dennoch gut durch diese Zeit kommen kann.
Frage: Herr Hahn, vielen Menschen bereiten die unsicheren Zeiten Angst. Gibt es einen Ausweg? Stefan Hahn: Das ist eine sehr vielschichtige Frage. Eigentlich haben wir bereits alles, was wir brauchen, um gut damit umgehen zu können. Allerdings ist uns der Zugang zu diesen Möglichkeiten und Ressourcen verloren gegangen.
Das müssen Sie genauer erklären. S.H: Wir müssen wieder in Kontakt zu uns selbst kommen und zwar auf einer ganzheitlichen Ebene. Konkret bedeutet das also, Denkmuster und innere Bewertungen zu erkennen, die uns daran hindern, kreativ mit dieser Situation umzugehen. Wir müssen wieder lernen, auch unangenehme Gefühle auszuhalten und nicht versuchen, sie zu vermeiden oder von uns abzuspalten. Auf den Punkt gebracht: Wir müssen wieder lernen, uns so anzunehmen wie wir sind und aufhören, gegen uns selbst und das Leben, wie es sich im Moment darstellt, zu kämpfen – bei allem Optimierungsbedarf. Und das Leben stellt sich immer wieder neu dar – ob das eine Pandemie wie Corona oder Kriege und andere Krisen sind.
Frage: Welche Symptome zeigen an, dass es einfach zu viel ist? S.H.: Zunächst kann ich Belastungen ganz einfach erkennen, indem ich mich frage, was gerade in meinem Leben los ist: Auf der Arbeit ist viel zu tun, die Familie möchte unterstützt werden, die Freunde kann ich nicht mehr sehen, ich werde vielleicht selbst krank. Vielleicht sind es auch Gedanken, die immer wieder um bestimmte Themen kreisen und die mich bis in den Schlaf verfolgen, sodass ich schlecht einschlafe, nachts aufwache und dann weitergrübele. Es können aber auch Stimmungsschwankungen auftreten oder häufige Gereiztheit, das Gefühl der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder Hilflosigkeit. Körperlich kann es zu Störungen des Verdauungstraktes kommen, zu Hautreaktionen, Bluthochdruck, Gewichtszunahme oder -abnahme. Oft treten mehrere dieser Symptome auf. Wenn wir gar nicht mehr auf uns hören und vor allem damit beschäftigt sind, dass alles wie gewohnt funktioniert, bekommen wir womöglich erst nach längerer Zeit mit, dass etwas nicht stimmt. Bis dahin können sich schon ernsthaftere körperliche Reaktionen entwickelt haben.
Frage: Was kann helfen, das seelische Gleichgewicht wiederherzustellen? S.H.: Die Möglichkeiten sind nicht kompliziert, aber wie Karlfried Graf Dürckheim, der große Psychotherapeut und Meditationslehrer, es so treffend ausgedrückt hat: „Die Übungen sind einfach, aber es ist schwer, ein Übender zu werden.“ In der Umsetzung müssen wir uns schon disziplinieren: Gesunde Ernährung – wir neigen evolutionär betrachtet in Krisen eher zu fettiger Kost –, Bewegung, Körperübungen wie Yoga, Tai Chi, Meditation, Achtsamkeit den eigenen Bedürfnissen und Grenzen gegenüber. Freundlichkeit und Mitgefühl für mich selbst und andere helfen genauso wie einfach anzuerkennen, dass es gerade eine herausfordernde Zeit ist. Oder einfach mal im Wald spazieren gehen, die Luft einatmen, die Düfte und den Wechsel von Licht und Schatten wahrnehmen. Das wirkt in vielerlei Hinsicht antidepressiv – auch durch die Bildung des wichtigen Vitamin D in der Haut, das für die Widerstandsfähigkeit des Gehirns unerlässlich ist. Mental ist es wichtig zu lernen, Situationen anzunehmen, die ich nicht beeinflussen kann. Ich würde mich überfordern, wenn ich gegen das kämpfte, was sich meiner Kontrolle entzieht.
Frage: Die Situation annehmen, ist sicherlich gut. Aber schön wäre doch eine Vision, etwas, das hoffen lässt? S.H.: Wir haben in Tausenden von Jahren gelernt, mit Katastrophen zu leben und werden immer einen Weg finden. Denken Sie nur an die großen Katastrophen der Geschichte, die Pest, die vielen Kriege. Der Mensch ist zu so viel mehr Kreativität und Durchhalten fähig – deshalb schaue ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Außerdem haben wir die großartige Möglichkeit, durch Krisen zu lernen und die Chance, die Welt nachhaltig zu verändern.
Frage: Haben Sie ein ganz persönliches Erfolgsrezept? S.H.: Für mich ist die Begegnung mit Menschen, die ich liebe, meiner Familie, meinen Freunden sehr wichtig. Das gibt mir viel Kraft, um die Belastungen auszubalancieren. Ich vergleiche mein Leben gern mit einem Weg: Ich empfinde es als ein großes Glück, bei allem Leid und den furchtbaren Dingen, die passieren, auch meinen persönlichen Tiefschlägen, dennoch meinen Weg zu finden und zu gehen. Mein Leben gibt mir die Möglichkeit zum Lernen – und zwar in jedem Moment. Meinen (Lebens)Weg gehe ich offenherzig mit großem Mitgefühl für mich, andere Menschen und diese Welt. Das ist für mich ein tiefer Antrieb und das lässt mich zufrieden sein.
Das Interview führte Judith Hens.
Zur Person Stefan Hahn (55) ist seit mehr als 20 Jahren Spezialtherapeut in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Barmherzige Brüder Saffig. Seit 2017 entwickelte er einen Achtsamkeitskurs für Patienten der Fach- und Tagesklinik. Stefan Hahn hat folgende Ausbildungen absolviert: Gestalttherapeut, MBSR-Lehrer beim Institut für Achtsamkeit, Linda Lehrhaupt, Weiterbildungen bei Jon Kabat-Zinn, Saki Santorelli, Tara Brach und Jack Kornfield. Studium zum Meditationslehrer an der Universität Berkeley, Greater-Good-Science-Institute und SoundsTrue. Außerdem ist der dreifache Familienvater als Fotograf tätig.
Meditation: Der 3-Schritte-Atemraum Mit dieser Meditation können Sie jederzeit innehalten, den Autopilot-Modus verlassen und in Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment kommen. Falls erforderlich, kann diese Kurzmeditation auch dabei unterstützen, eine andere Haltung gegenüber der gegenwärtigen Erfahrung einzunehmen.
Den 3-Schritte-Atemraum können Sie in nahezu jeder Situation des Alltags praktizieren, ein Meditationsplatz ist dafür nicht erforderlich. Der 3-Schritte-Atemraum ist nicht zu verwechseln mit einer kurzen Auszeit, die dazu dient, sich innerlich zurückzuziehen oder zu entspannen. Ebenso wie bei allen anderen Achtsamkeitsübungen ist eine wache, freundliche und offene Präsenz die Basis. Indem Sie sich der gegenwärtigen Erfahrung öffnen, üben Sie sich darin, mehr Bewusstheit zu entwickeln und Ihren Blickwinkel zu erweitern. Das eröffnet Ihnen die Möglichkeit, eigene Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster kennenzulernen und hilft, Schritt für Schritt in eine neue Beziehung zu Ihren alltäglichen Erfahrungen und Verhaltensmustern zu treten.
Der Ablauf der einzelnen Schritte dieser Übung erinnert an die Form einer Sanduhr. Die Übung kann sowohl im Sitzen als auch im Liegen oder Stehen durchgeführt werden. Nehmen Sie sich zur Einstimmung einige Augenblicke lang Zeit, um Ihren Körper wahrzunehmen und sich an eine offene und freundliche innere Haltung zu erinnern.
Lassen Sie während des ersten Schritts Ihre Aufmerksamkeit weit und offen für die Erfahrung des gegenwärtigen Moments werden – unabhängig davon, wie sich diese gestaltet. Nehmen Sie wohlwollend wahr, welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen Sie in diesem Augenblick haben. Versuchen diese einfach wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Zentrieren Sie im zweiten Schritt Ihre Aufmerksamkeit, indem Sie sich auf den Atem fokussieren. Lassen Sie den Atem in seinem eigenen Rhythmus kommen und gehen und nehmen Sie die mit ihm verbundenen Empfindungen achtsam wahr. Das stabilisiert Ihren Geist und hilft Ihnen, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Dehnen Sie im dritten Schritt Ihre Aufmerksamkeit um den Atem herum aus, bis es den gesamten Körper umfasst. Spüren Sie den Körper als Ganzes und nehmen Sie alle Körperempfindungen wahr, die jetzt da sind – einschließlich aller Gedanken und Gefühle, die Ihnen bewusst werden. Beenden Sie die Übung danach in Ihrem eigenen Tempo. Üben Sie den 3-Schritte-Atemraum anfangs am besten mehrmals täglich, um mit ihm vertraut zu werden. Es nimmt mindestens genauso viel Zeit in Anspruch, über etwas nach zu grübeln, wie den 3-Schritte-Atemraum zu praktizieren. Das kann sie darin bestärken, diese Übung regelmäßig durchzuführen. Vielleicht gefällt Ihnen die Vorstellung, dass Sie mithilfe des Atemraums bei sich selbst „an die Tür klopfen“ und sich mitten im Alltag einen Besuch abstatten. Wie viel Zeit Sie sich für diesen Besuch nehmen, bleibt Ihnen überlassen. Allgemein hat es sich bewährt, die drei einzelnen Schritte innerhalb von etwa 1 Minute durchzuführen. Mitunter genügen aber auch schon wenige Augenblicke dafür. Sind Sie innerlich sehr angespannt oder stark aufgewühlt, kann es sinnvoll sein, die Übungszeit um einige Minuten auszudehnen.
(Nach Heike Alsleben)
Quelle BBT-Gruppe Barmherzige Brüder |